GIGANTISCHE WINTERGÄSTE IN JAPANS EISIGEM NORDEN
Foto und Reportage © H. Schulz
Ohne Fisch geht in Rausu auf Hokkaido gar nichts. Im Hafen des unscheinbaren Ortes im Norden von Japan senkt sich der Schnee auf die bulligen Fangschiffe. In der Auktionshalle, nicht weit vom Anleger entfernt, debattieren die Händler über Thunfisch und Kabeljau. Dick vermummt stehen wir mit der Kamera und dem schweren Stativ in der beißenden Kälte und blicken frustriert hinaus aufs Ochotskische Meer. Im Fernglas können wir mehrere Riesenseeadler erkennen. Weit entfernt sind sie, viel zu weit, selbst für unser großes Teleobjektiv. Wir müssen dort hin – aber wie?
Die Seeleute auf ihren Schiffen begegnen uns wortkarg – wie soll man auch reden ohne gemeinsame Sprache. Endlich erbarmt sich ein Fischer. Er winkt uns an Bord, und nach kurzer Fahrt durchs Eis sind wir am Ziel. Während die Mannschaft des Kutters die Fischreste vom Deck schrubbt, zieht uns die fantastische Szenerie in ihren Bann: Vor der bergigen Kulisse des Shiretoko Nationalparks dümpeln im bleigrauen Meer zerklüftete Eisschollen. Sie dienen den mächtigen Adlern als schwimmende Inseln. Einer verzehrt gerade einen Fisch, andere streiten mit den Krähen um ihre Beute. Mit bis zu 2,3 Metern Flügelspannweite gehören die Riesenseeadler zu den größten Greifvögeln der Welt. Orangegelb leuchten die klobigen Schnäbel aus dem dunklen Gefieder mit den weißen Schultern und Beinen.
Die Brutgebiete der Riesenseeadler liegen weiter nördlich, an den Küsten des Ochotskischen Meers. Auch auf der russischen Insel Sachalin und auf der Halbinsel Kamtschatka ziehen die Greife in den Kronen großer Bäume ihre Jungen auf. Wenn zu Beginn des Winters eine geschlossene Eisdecke den Vögeln die Nahrungssuche verwehrt, wandern sie entlang der Küste gen Süden. Von Kamtschatka aus erreichen sie Hokkaido über die Inselkette der Kurilen. Dort, wo selbst mitten im Winter das Meer niemals vollständig gefriert, ernähren sie sich vom Beifang der Fischerei und vom Aas verendeter Sikahirsche.
Ein paar Stunden später sind wir zurück im Hafen. Am verhangenen Himmel zieht ein Riesenseeadler gemächlich seine Kreise. Nichts entgeht seinem scharfen Blick. Plötzlich setzt er zum Sturzflug an und ergreift mit den mächtigen Fängen einen Dorsch, der tot im Hafenbecken treibt. Am Ende der langen Kaimauer landet der mächtige Greif und lässt sich die Beute schmecken. Resteverwertung auf Adlerart. In der See vor Rausu wird nichts verschwendet – vor allem jetzt, im Winter.
Holger Schulz
Bergenhusen, 9. Dezember 2010
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