DIE „HIMMELSBESTATTER“ VON INDIEN –
Mit den Bengalengeiern verschwindet eine uralte Bestattungskultur
Fotos und Reportage © H. Schulz
Monsunzeit im Norden Indiens. Nahe Jaipur, im Bundesstaat Rajasthan, ist es drückend heiß und schwül. In der Luft über dem schütteren Wäldchen hängt der eklige Geruch von Verwesung und Tod. Die dreißig oder mehr Bengalengeier, die sich dort eingefunden haben, stört das aber nicht. Sie drängen sich um die tote Kuh, die wohl schon länger in der Hitze schmort. Tief versenken die Aasfresser ihre nackten Hälse in die Bauchhöhle des Kadavers und reißen mit ihren kräftigen Schnäbeln die Innereien heraus. Im Gerangel der großen Vögel ist der stinkende Leichnam bald kaum mehr zu sehen.
So unappetitlich der Anblick auch ist – im Kreislauf der Natur spielen die Bengalengeier eine unverzichtbare Rolle. Als reine Aasfresser sind sie gewissermaßen die Gesundheitspolizei Indiens. Mit scharfen Augen entdecken die Vögel beim Nahrungsflug in großer Höhe jedes verendete Tier und entsorgen dessen sterbliche Reste. Zumindest war das so bis Anfang der 90er Jahre. Dann plötzlich begann das große Sterben – und innerhalb weniger Jahre war nur noch jeder tausendste Geier am Leben. Mit dramatischen Folgen auch für die Menschen: Ohne die gefiederten Aasfresser gab es nun für verwilderte Hunde überall Nahrung. Sie vermehrten sich explosionsartig, infizierten sich mit Tollwut, und nach Bissverletzungen starben bald auch Tausende Menschen.
Was war die Ursache des Massensterbens der Geier? Dem indische Wissenschaftler Anil Markandya und britischen Vogelschützern gelang es, das Rätsel zu losen: Die Geier fraßen häufig die Kadaver von Rindern, die gegen Euter-Entzündungen und andere Krankheiten mit dem Medikament Diclofenac behandelt worden waren. Auch beim Menschen wird dieser Wirkstoff eingesetzt, z.B. gegen Schmerzen, Rheuma und Arthrose. Bei Geiern jedoch führt Diclofenac zum tödlichen Nierenversagen. Als das Medikament im Jahr 2005 endlich für tiermedizinische Zwecke verboten wurde, war es für die Aasfresser bereits zu spät.
Eine Katastrophe auch für die Glaubensgemeinschaft der indischen Parsen. Sie praktizieren die sogenannte „Himmelsbestattung“: In Bombay legen sie ihre Toten auf die nach oben offenen „Türme des Schweigens“, wo dann die Geier alles Weitere übernehmen. Heute jedoch sind die geflügelten Bestatter selten geworden. Und so verschwindet mit den Bengalengeiern nicht nur eine weitere Vogelart – sondern auch eine uralte Kultur und Tradition.
Holger Schulz
Bergenhusen, 20. Juni 2011
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